Zu innovativ für Politik und Behörden
„Bitte warten Sie, Sie werden gleich mit dem nächsten Ansprechpartner verbunden“: Wenn Sozialunternehmen ihre Anliegen gegenüber Politik und Verwaltung auf dem normalen Dienstweg vorbringen wollen, landen Sie häufig in der Dauerwarteschleife. Denn ihr Ansatz, gesellschaftliche Probleme mit unternehmerischen Mitteln zu lösen, ist zwar nicht mehr neu, aber noch längst nicht etabliert. Zu unterschiedlich sind die Geschäftsmodelle gegenüber gewinnorientierten Unternehmen oder Startups, und zu verschlungen die Wege zu den richtigen Ansprechpartnern im System. Damit sich Türen öffnen und nicht jedes soziale Unternehmen erneut anklopfen muss, nutzt die Regionalgruppe des Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland SEND (e.V.) das Zeitfenster vor der hessischen Landtagswahl im Herbst 2023 und hat Frankfurter Kandidat:innen zum politischen Frühstück in der Villa Gründergeist eingeladen.
Drei Landtagsabgeordnete hat das neugierig gemacht: Tobias Eckert, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD im Landtag und Mitglied im Wirtschaftsausschuss, Yanki Pürsün von der FDP, Mitglied der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung und im Landtag Sprecher für Soziales sowie Marcus Bocklet, Bündnis 90/die Grünen, Sozialpolitischer Sprecher und Mitglied im Sozialausschuss. Mit Wirtschaft- und Sozialpolitikern sitzen beim Frühstück somit genau die richtigen Ansprechpartner am Tisch für die Anliegen, welche die bei SEND organisierten Frankfurter Sozialunternehmer:innen mitbringen.
„Unser Ziel ist es, als Sektor in den Mainstream zu kommen,“ formuliert Patrick Mijnals als Vertreter von SEND e.V. und Gastgeber in der Villa Gründergeist die Stoßrichtung des Branchenverbands mit mittlerweile über 800 Mitgliedern. Der volkswirtschaftliche Nutzen der Social Entrepreneurs und vor allem das enorme Potential ihrer Lösungen sei inzwischen belegt. Es bleibt die große Frage: Wie hebt man es? Ein Schlüssel sind sicher niedrigschwellige Unterstützungsdienstleistungen, wie das Sozialinnovator-Programm, das Social Impact Lab oder auch Coworkingspaces wie die Villa Gründergeist oder der Heimathafen in Wiesbaden sie anbieten. Jörg Schüler, Sprecher der SEND Regionalgruppe und Geschäftsführer der Digitale Helden gGmbH, betont die Notwendigkeit, zu sehen, was anderswo, etwa in München oder Hamburg passiert. „Was bei uns fehlt, sind eine dezidierte Strategie und eine Anlaufstelle für Social Entrepreneurs“, sagt Schüler. Diese beiden Punkte sowie eine angemessene finanzielle Förderung, besonders in der Startphase, sind die Kernforderungen an die Politik und auch im aktuellen SEND-Positionspapier zum Thema Social Entrepreneurship und Soziale Innovation in Hessen niedergelegt.
Statements der Social Entrepreneurs
Herzblut für ihre Unternehmen und Frust wegen mancher Steine, die sie dafür täglich aus dem Weg räumen müssen, sind in allen Statements der Sozialnunternehmer:innen zu spüren. Sie alle schaffen innovative Lösungen und leisten Beiträge für Integration, Umweltschutz, Bildung - auf eigenes Risiko und nicht selten gegen erhebliche Widerstände. Was besonders schmerzt: mangelnde Wertschätzung.
Dem Fachkräftemangel in der Pflege durch Integration und Begleitung begegnen: Petra Rahn, Geschäftsführerin der „Bildungsprofis“ berichtet von der Gründung ihrer Pflegeschule. Verlässliche Förderung hat sie gefunden, nach jahrelangem persönlichen Einsatz. Sie wünscht sich mehr offene Türen und Verständnis, damit andere schneller ans Ziel kommen. Und: Mehr Wertschätzung für den Einsatz und das Risiko, das Sozialunternehmer:innen auf sich nehmen. Sie hätten verdient, häufiger im Rampenlicht zu stehen.
Digitale Kompetenz für Jugendliche und ihr Umfeld: Birte Frey von Digitale Helden berichtet vom positiven Feedback und dem Dank vieler Eltern für die Unterstützung von Jugendlichen, in der digitalen Welt zurecht zu kommen. Jörg Schüler betont, dass es sich bei den Social Entrepreneurs um eine relevante Gruppe handelt, die an brisanten Themen arbeiten: „Wir sind viele!“ Sie benötigen einen physischen Ort in der Stadt, als Vernetzungsplattform, um ihre Wirkung für das Gemeinwohl noch besser zu entfalten.
Frauen mit und ohne Migrationshintergrund zusammenbringen, Ankommen und Integration fördern: Agnesa Kolica, Gründerin von „Grow togehter Germany“ entwickelt eine digitale Plattform für „social Matching“. Sie hat bereits zwei Organisationen gegründet und weiß, dass es Zeit braucht, die Geschäftsmodelle zu entwickeln. Fördermittel, die nur kurz laufen und an viele Bedingungen geknüpft sind, helfen Social Startups wenig.
Begegnungen außerhalb der Bubble durch eine Plattform für die Rekrutierung von Freiwilligen – mit und ohne Einschränkung oder Fluchterfahrung – bei Sportevents: Axel Nüssler, Gründer von German Volunteers berichtet von den Beharrkräften im organisierten Sport. Viele öffentliche Mittel würden hier für einmalige Aktionen verpulvert und neue Initiativen hätten es sehr schwer.
Berufliche Qualifizierung und Integration von Schneiderinnen mit Fluchterfahrung: Nici von Alvensleben erlebt mit ihrer B2B Schneiderei „Stich by Stich“ seit Jahren, dass Sozialunternehmen bei den bestehenden Förderstrukturen durchs Raster fallen. Als Zweckbetrieb einsortiert, der Gewinn erwirtschaftet, aber wegen der sozialen und nachhaltigen Ausrichtung immer noch förderbedürftig sei, passe die Firma in keine Schublade. Auch hier wird deutlich: Restriktive Bedingungen für Fördermittel von Staat oder Stiftungen sind ein Hemmschuh für junge Sozialunternehmen.
Reaktionen der Politiker und Fazit
Wie lassen sich die Interessen bündeln, und wo lässt sich Abhilfe schaffen? „Allerhöchste Sympathien“ und viel Verständnis und Verstehen seitens der Politiker wird jedenfalls geäußert. Im Gespräch wird deutlich, dass die persönliche Verständigung über die unterschiedlichen Perspektiven bereits der erste Schritt zur Verbesserung der Situation sein könnte. Im zweiten Schritt muss jedoch die Verwaltung in die Lage versetzt werden, mit den Social Entrepreneurs und ihrer Innovationsfreude umzugehen. Was eigentlich erwünscht ist, beispielsweise eine experimentelle Herangehensweise, ist nämlich nicht vorgesehen: Die Social Entrepreneurs arbeiten bedarfsorientiert. Zeigt eine Maßnahme nicht die gewünschte Wirkung oder bleiben die Teilnehmenden aus, steuern sie um und verkürzen oder verändern das Programm. In der momentanen Förder-Logik mit fixen Laufzeiten undenkbar.
Bei wichtigen Themen wie Integration hat der Staat die engagierten Sozialunternehmen jedenfalls bitter nötig. Ob gesonderte Ansprechpartner oder vielmehr „Lotsen“ in der Verwaltung die Lösung sind, darüber kann man reden.
Auf nach Wiesbaden: Ein runder Tisch mit Fachpolitiker:innen aus den Bereichen Wirtschaft und Soziales sowie Vertreter:innen der Ministerien zeichnet sich am Ende als eine Möglichkeit ab, die Probleme konkret anzugehen, die den Sozialunternehmer:innen das Wirtschaften schwer machen. Eine weitere Idee der Runde: Einen gut gefüllten Innovationstopf im Sozialdezernat zu installieren, für alle die durchs Raster fallen. Bleibt zu hoffen, dass die Beteiligten das Thema noch präsent haben, sollten sie an Koalitionsverhandlungen beteiligt sein.